Notizen aus dem Westpark in der Quarantänezeit

HÜSEYİN KANTAŞ

Ich merkte in diesen Tagen deutlich, dass ich seit langem nicht mehr so viel Zeit gehabt hatte. Ich hatte weder für mich persönlich, noch für meine Umgebung und für einzelne Blumen auf meinem Balkon Zeit übrig…

Und ich fühlte in dieser Zeit, dass eigentlich jeder Mensch eine eigene Fensterbank besaß, an welcher er nachdenken und sich mit dem Sinn des Lebens auseinandersetzen könnte. Meine Küche hat eine Glaswand. Ich stand hinter dieser Glasfassette und schaute nach draußen und sah aneinander gegliederte Nachtlichter, die ich vorher so nicht wahrgenommen hatte. Tagsüber sah ich aufeinandergestapelte Container. Ich habe sogar den

Dortmunder Hafen von weitem erblicken können, wobei Dortmund ja kein Meer hatte.

Ich bin auch wie alle Anderen zu Hause. Denn Isolation ist notwendig geworden! Die ersten Tage waren sehr schwer auszuhalten. Das mag wohl daran liegen, dass ich vor dieser Zeit ununterbrochen und intensiv arbeitete. Nachhinein gewöhnte ich mich an die neue Situation. Wenn ich Lust hatte, schlief ich. Hatte ich wieder Lust danach, danb stand ich wieder auf. Ich rief meine Freunde an und führte lange Telefongespräche mit ihnen. Sie alle standen auch vor der Glaswand ihrer Küche und blickten nach draußen. Die Küchen in den ich arbeitete, hatten meistens keine Fenster gehabt. Dazu hatte ich nie Zeit dafür, in diesen in die Ferne zu blicken und nachzudenken. Jetzt habe ich sowohl genügend Zeit, als auch die Chance und auch das Fenster, aus dem ich in die Ferne schauen kann. Orhan Veli hatte einst gesagt: “ Ein Fenster, das Beste ist ein Fenster/ Wenigstens kannst hieraus die vorbeifliegenden Vögel beobachten / Als die vier Wände zu erblicken.“

Während ich die Vögel, den Himmel beobachtete und darüber philosophierte, dass ich Zeit zum Denken hatte, merkte ich, dass die vergangenen Jahre mich verändert hatten und ich vergessen hatte, zu träumen. Ich merkte, dass ich mein Leben nach sich ständig ändernden Emotionen gerichtet hatte. Wenn der Mensch nachdenkt, dann unternimmt er eine Reise in die Vergangenheit. Ich kehrte also auch zurück in meine Kinder- und Jugendzeit. Ich verschwand hinter den Fotos in meinem Fotoalbum, die ich aus dem Schrank lange nicht mehr rausgesucht hatte oder die ich mir nicht ansehen konnte. Ich las meine Notizen von früher, die ich in mein Heft aufgezeichnet hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob der Mensch dazu fähig ist, das schon einmal Erlebte mit den selben Gefühlen und mit der selben Intesität nochmal zu erleben. Aber ich tat es.

Meine Spaziergänge durch den Westpark wurden zu meiner alltäglichen Rutine. Einmal in der Woche gehe ich zur Arbeit. Mein Arbeitsplatz befindet sich auf dem Westpark. Ich hatte viele Male gehört, dass der Westpark früher Mal ein jüdischer Friedhof gewesen war. Ich bemerkte auch desöffteren das kleine Denkmal im Eingangsbereich des Parkes. Aber ich beachtete es vorher nicht so besonders. Jetzt schaute ich mir das genau an, als ob ich es zum ersten Mal gesehen hätte: “ Ich weine. Aus meinem Auge, aus beiden Augen strömen Tränen.“

Wegen der Quarantäne herrscht auf dem Park völlige Ruhe. Menschen, die hier spazieren gingen, liefen in 2-3 Meter Abständen zueinander. Ich traf auch Maria hier, die nach ihrem Aussehen, ihren Kleidern, dem Hut und ihrem Verhalten mich immer schon an Yıldız Kenter erinnerte, wenn ich mich mit ihr unterhielt. Vor der Seuche besuchte sie fast täglich das Cafe, wo ich arbeite, um hier zu Mittag zu speisen oder zu Abend einen Kuchen zu essen. Ab und an haben wir uns auch unterhalten. Jetzt kommt sie nur noch Donnerstags zu uns, um sich etwas zum Essen zu holen. Als wir uns trafen, tauschten wir auch uns kurz aus. Sie bat mich darum, sie beim Besuch des Grabes von ihrem Ehemann zu begleiten. Wir sprachen über das Wetter, über Borussia Dortmund und über den Coronavirus. Der Friedhof war für Besucher gesperrt. Sie beschrieb mir von weitem, wo das Grab sich ungefähr befand. Sie wusste von der Friedhofssperre für Besucher. Sie würde aber trotzdem das Grab ihres Ehemannes besuchen kommen und von Weitem nach ihm sehen.

Auf dem Rückweg benutzten wir einen Weg, der so schön wie das Paradise sein müsste und den ich bis dahin nicht kannte, obwohl er in der Nähe meiner Wohnung lag. Der aufgehende Frühling zeigte sich auf den Knospen der Bäume, das Zwitschern der Vögel mischte sich in die wohlwollenden Düfte der Frühlingsblumen. Sie war zufrieden mit der Regierung. Maria vertraute der Bundeskanzlerin Merkel und würde sich strikt an die Vorgaben der Politik halten. Sie meinte, dass alle, die Donnerstags sich bei uns im Cafe etwas zum Essen holen kämen, eigentlich nur sich hinter diesem Vorwand sich etwas zum Essen holen zu müssen, verstecken würden. Sie erzählte ausführlich, dass alle ihre Freunde vermissen würden und gerne miteinander etwas plaudern wollten und deswegen hierher kämen, um sich Etwas zum Essen zu kaufen. “ Ich hoffe, dass es schnellstmöglich vorbei ist. Ich mag meine Freunde sehr und vermisse die Zeit, die wir miteinander verbringen.“

Als ich mich an der Bushaltestelle von ihr verabschieden wollte, fiel das Plakat der DIDF in meinen Blick, welches sich gegen die derzeitige Epidemie und Gesundheitspolitik richtete. Ich wollte vor dirsrm Plakat ein Foto von ihr machen. Sie lehnte meinen Wunsch mit einem fast Schamgefühl eines früheren großen Schauspielerin ab.

Ich weiss kaum, ob ich die Epidemie, Quarantäne, meinen derzeitigen geistigen Zustand und der Anderen gut erfassen und erklären konnte. Ich habe eventuell falsche Sätze gebildet… Ich habe auch wie alle Anderen auch das Recht sinnlos zu reden. Menschen verständigen sich untereinander, indem sie miteinander reden oder schreiben. Ich denke, dass Gefühle immer zueinander finden. Wenn wir unsere Gefühle offenbaren, können wir uns auch gegenseitig fühlen. Diese Epidemie ist eine Katastrophe und sie ist hochgefährlich. Sie gab uns aber die Möglichkeit etwas aufzuatmen und nachzudenken. Diese schrecklichen Tage werden auch zu Ende gehen. Vieles wird wieder so sein wie vorher. Ich hoffe, dass wir es nicht vergessen, dass wir alle eine Fensterbank haben und hier und auf unseren Spaziergängen in einem Park sehr viele Schönheiten gesehen haben, die uns vorher nicht aufgefallen waren.

(Dieser Artikel wurde geschrieben, die Seite wurde gestaltet. Ich ging am Donnerstag wieder in ein Café. Maria kam diesmal nicht. Sie sagten: „Er ist gestern gestorben.“ Wie glücklich, dass Sie nicht mehr jeden Tag auf den Friedhof gehen muss. Seite an Seite mit seiner Frau.)

(Übersetzung: Özgür Metin Demirel)

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