von Kimberly Becker (Fritz-Hüser-Institut)
Juli 2012: Es ist still im Saal der Ruhr-Universität Bochum, als Ilse Kibgis mit sanfter Stimme aus ihren Gedichten vorliest. Hunderte von Studierenden hören der Autorin gespannt zu, wie sie mit ihrer Lyrik Erfahrungen beschreibt, die sie sich erst innerhalb dieser Verse getraut hat, zu erzählen. Zeilen über sich als Arbeiterin, Mutter, Partnerin und vor allem als Frau.
In der Industriestraße in Gelsenkirchen-Horst wird Ilse Tomczak (später Kibgis) am 03. Juni 1928 geboren – an dem grauen und wenig grünen Ort, wo sie ihr ganzes Leben verbringen wird. Sie wächst mit ihren Eltern und zwei Brüdern in einer kleinen Wohnung auf. Ihre Mutter ist Hausfrau, ihr Vater Bergmann.
Mit 10 Jahren beginnt Ilse Kibgis Bücher zu lesen, Klassiker von Schiller bis Dostojewski und Lyrik, wie die von Heinrich Heine und Ingeborg Bachmann, für sich zu entdecken – Literatur als Befreiung von der Enge der Stadt.
Wann genau sie selbst die ersten Gedichte verfasst hat, daran kann sie sich nicht erinnern. Auch wenn das Schreiben ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens gewesen ist, um aus dem Alltag auszubrechen, so standen andere Dinge lange im Vordergrund. Ilse Kibgis geht zur Volksschule, danach hätte sie gerne eine höhere Schule besucht oder studiert, wissbegierig wie sie war, jedoch konnten sich ihre Eltern diese Ausbildung nicht leisten. Bitterkeit darüber fühlte sie allerdings nicht. Nach der Volksschule absolviert sie ein Pflichtjahr in einem Lebensmittelgeschäft und muss sich im Rahmen des Kriegsdienstes in Schuh- und Matratzenfabriken verpflichten. Die Arbeit nimmt sie vollständig ein. Keine einzige Arbeit, sei es als Putzfrau, Büglerin, Verkäuferin, oder Kassiererin, hat sie je gerne verrichtet – es war lediglich ein Mittel zum Zweck. Sie musste schließlich Geld für die Familie mitverdienen.
Ihren Mann Fred Kibgis, einen gelernten Ofenbauer, lernt die geborene Gelsenkirchenerin 1948 bei der evangelischen Jugend kennen. Die beiden heiraten 1953 und ziehen in die erste eigene Wohnung. Nachdem zwei Kinder kurz nach der Geburt starben, kommt Gerd Kibgis 1955 zur Welt.
All die Wendepunkte und Ereignisse in ihrem Leben verarbeitet Ilse Kibgis in ihren Gedichten. Das Leben und die Arbeit im Ruhrgebiet, Tätigkeiten als Frau, die Friedensbewegung und Beziehungen zu anderen Menschen. Die ersten veröffentlichten Gedichte entstehen in den 1970er-Jahren. Josef Büscher, Leiter der Literarischen Werkstatt der Volkshochschule Gelsenkirchen, ermuntert und fördert die Autorin, die daraufhin an öffentlichen Lesungen teilnimmt und sich der Kritik anderer stellt. 1977 erscheint ihr erster Gedichtband “Wo Menschen wohnen”. Ihr bekanntestes Gedicht wird später die Liebeserklärung “Meine Stadt”, das 1984 in der Sammlung “Meine Stadt ist kein Knüller in Reisekatalogen” bei Anneliese Althoff und Annemarie Stern im ASSO-Verlag erscheint. Immer häufiger wird Ilse Kibgis zu Lesungen eingeladen und für Interviews angefragt. Ihre Texte werden in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. Ihr emanzipatorisches Schreiben über etwas, das Kibgis für sich allein und aus sich heraus geschaffen hat, bewegt die Menschen, löst etwas in ihnen aus. Ihr Mann und ihr Sohn können sich mit den Gedichten und ihrer Tätigkeit als Autorin allerdings nicht identifizieren. Fred Kibgis fühlt sich deplatziert, sobald Medienvertreter*innen zu Besuch kommen und seine Frau über das Schreiben spricht. Er verschwindet dann lieber zum nächstgelegen Kiosk.
Nach dem Tod ihres Mannes zieht Ilse Kibgis in eine kleinere Wohnung. Dort entstehen weitere Gedichte. Sie schreibt außerdem Texte für das 100-jährige Jubiläum ihrer Kirchengemeinde, sowie für den ortsansässigen Schachverein. Ihr Sohn Gerd erleidet einen Schlaganfall und stirbt kurze Zeit später. Geplant werden Vertonungen ihrer Gedichte, wozu es leider nicht mehr kommen wird. Am 17. Dezember 2015, kurz nach dem Tod ihres Sohnes, verstirbt Kibgis und hinterlässt ein Werk, das einzigartig die Lebenswirklichkeit von Frauen, insbesondere arbeitenden, thematisiert und sich klar gegen Aufrüstung und Krieg positioniert.
Auszeichnungen und Stipendien würdigen ihr Werk und die Inhalte, für die sich einsetzte. Ilse Kibgis erhält 1978 ein Literaturstipendium der Stadt Gelsenkirchen. 1983 wird ihr der Josef-Dietzgen-Preis verliehen, woraufhin sie 1985 ein Arbeitsstipendium des Landes NRW und 1988 dann den Autorenpreis des Forums Kohlenpott erhält. Ihr Nachlass befindet sich im Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt.
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