AHO KANDEMİR: Ich höre auf das Gewissen der Humanität!

ABBAS DOĞAN

Aho Kandemir ist 89 Jahre alt. Er erzog fünf Töchter, fünf Jungen, insgesamt zehn Kinder, die mittlerweile ihrerseits Enkel haben. Er glaubte daran, dass die Kinder zu schulen, der einzige Weg ist, obwohl er nicht alle in die Schule schicken konnte, wie er eigentlich wollte: “Wenigstens sollten einige von ihnen, die wollten, in die Schule gehen.” Die damaligen Lebensverhältnisse waren schwieriger als die heutigen, es war nicht einfach, so viele Kinder zu erziehen und zu schulen. Die Idee des Weggehens tauchte erstmals bei ihm auf, als die Arbeitsmigration nach Deutschland aufkam. Die Erzählungen von Migrantinnen regten ihn an, jedoch war es nicht einfach, eine Entscheidung für sich zu treffen: “Monatelang habe ich bis zum frühen Morgen nachgedacht, und daraufhin wieder alles über den Haufen geworfen.” Letztendlich entschloss sich Kandemir mit seinem Bruder für den Wegzug nach Deutschland. Beide Brüder wurden in das Gastarbeiterprogramm aufgenommen. Als der Tag des Abschieds mit ihrem Land gekommen war, kam der Bruder mit einer Idee: “Lieber Bruder, du solltest allein dorthin gehen, du hast viele Kinder, ich kümmere mich um die ‚Hiergebliebenen‘.“ Kandemir war traurig, er blieb aber trotzdem bei seiner Entscheidung für den Weg in die Fremde. Nach der Erledigung der Amtsgänge war sein erster Zwischenstopp in Istanbul, der zweite die Stadt Bielefeld in Nordrhein-Westfalen. Das erste Erlebnis in Deutschland blieb ihm in seiner Erinnerung lebendig als wäre es heute: “Vor der Reise wurde meine grauen Haare in Istanbul vorsorglich gefärbt. Mir wurde ein neuer Pyjama mit blauen Streifenmustern gekauft. Als ich Bielefeld erreichte, es war gegen Abend, wurde mir mein Bett gezeigt, mein Zimmer war im ersten Stock. Die Bettlaken waren so sauber, dass ich vor ihrem Wert nicht schlafen konnte. Ich packte das Paket meines Pyjamas aus und zog ihn an. Danach habe ich ausgiebig geschlafen. Als ich aufgestanden bin, traute ich meinen Augen nicht: Meine Haare und mein Pyjama haben auf die saubere Bettwäsche und die Kissen abgefärbt.“ Während er noch darunter litt, wurde er noch dazu vom Hausbesitzer zum Frühstück eingeladen, in dem Moment flatterten seine Knie vor Aufregung. Aber er hatte keine Wahl und musste gehen: „Gezwungenermaßen bin ich gegangen, ich saß beim Frühstück, meinen Blick stets auf die Tür, für einen Augenblick tauchte eine Raumpflegerin mit Bettlaken vor der Tür auf. Die Bettlaken wurden den Chefinnen gezeigt. Ich habe befürchtet, dass sie mich abschieben werden. Vor der Angst war ich ganz angespannt, mir blieb der Bissen im Hals stecken. Sie haben mich zu einem riesigen Einkaufszentrum gebracht, mir wurde neue Kleidung gekauft, die alte ist im Müll gelandet, ich habe geduscht und dann hatte ich das Gefühl, wiedergeboren zu sein.”

DIE ZEIT DER FABRIKARBEIT

Er begann zu arbeiten und seinen eigenen Lebensweg zu finden. Im Laufe der Zeit brachte er seine Frau und seinen Sohn in sein neues Leben. Nachdem es ihm wirtschaftlich gut ging, nahm er sich bald vor, die Familie, für die er arbeitete, zu verlassen, um in einer Fabrik zu arbeiten. Obgleich der damalige Arbeitgeber ihm gesagt hatte „Geh nicht, es ist nichts für dich, dort, wo du hingehen möchtest, wirst du wegen des Lärms ertauben und Unfälle haben.”, hörte Kandemir seinem Chef nicht zu.
Als er berichtete, “Der Mann hatte recht. Am dritten Tag meiner Arbeit habe ich einen Unfall gehabt und mir in die Hand geschnitten. Drei Mal musste ich ins Krankenhaus.”, schweiften die Augen in die Vergangenheit. Seine Frau ist dement geworden. Aho Kandemir konnte sich nicht um sich selbst kümmern, seine Pflege wurde von den Kindern übernommen. Er konnte tagsüber nur ein paar Stunden schlafen. In der Nacht musste sich eine Person um ihn kümmern. Bis dahin verlangte er kein Hilfsprogramm zur Unterstützung. Der alte Lebenserfahrene hatte zehn Kinder, 19 Enkel und elf Kinder, von den eigenen Enkeln, eine Großfamilie, mit der er nicht allein ist. Ihre Liebe und die Liebe, die er für sie hat, hielt Aho Kandemir lebendig.

SOLIDARITÄT UND HILFEISTUNG

Wenn er über sein Leben erzählt hat, nutzte Aho Kandemir oft die Worte Solidarität, Hilfeleistung und Humanität. Er erzählte eine Urlaubserinnerung: “Immer, wenn ich Urlaub in der Heimat mache, bringe ich für diejenigen, die mich besuchen, ein paar Kleinigkeiten mit. In dem Jahr, in dem sich die Armut breit machte, habe ich den Armen über die Runden geholfen, sodass ich mir für die Rückreise von jemandem Geld leihen musste. An dem Tag, an dem ich zurückkehren wollte, besuchte mich jemand, der Arme hieß Ali. Wie schön er mich anguckte. Ich schaute auf seine Füße, er hatte keine Schuhe mehr. Das konnte ich nicht aushalten, ich gab ihm meine Schuhe und zog seine alten Schuhe an.“ Als Kandemir ihm die Schuhe reichte, zögerte Ali, “Nein, nein. Das geht nicht!”.
Er war beharrlich: “Nimm nimm.” Aho Kandemir war sehr traurig: „Ich pfeife aus dem letzten Loch, aber es schmerzte, ihm nicht helfen zu können.” Er ging mit alten, lumpigen Schuhen bis zum Flughafen, dort holte er seine Sandalen aus dem Koffer und zog sie an. Auf die Frage “Warum hast du das gemacht?”, kam von ihm die klare Antwort: “Ich höre auf das Gewissen der Menschlichkeit.“

(Übersetzung: Ali Rıza Kılınç und Katrin Abromeit)

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