Die Migrationsgeschichte der türkischstämmigen Arbeiterinnen hat vor genau 57 Jahren angefangen…
Sie trugen große Hoffnungen mit sich. Es gab auch natürlich auch Zeiten, wo sie glücklich waren. Aber meistens waren sie traurig, hatten umfangreiche Probleme und Sorgen. Ihre Geschichte verlief schmerzhaft…
Manche nannten sie “ Gastarbeiter“, wiederum andere bezeichneten sie als “ Menschen, die im Ausland lebten“. Es gab Leute, die sie als Ausländer abstempelten und andere nannten sie „Deutschländer“.
In Deutschland leben heute in etwa 3 Millionen türkischstämmige Menschen. Ungefähr die Hälfte von ihnen hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Meisten aus der 1. Generation, die nach Deutschland auswanderten, sind mittlerweile verstorben. Aber ihre Geschichte, die voller Hoffnung war, dauert heute noch weiter an. Şevket Çevik war auch einer von ihnen. Er kommt ursprünglich aus dem Dorf Sarilar, das im Landkreis Avanos in der Provinz Nevşehir liegt.
Er war auch unter den ersten Arbeiterinnen, die im Zuge der Arbeitsmigration nach Deutschland kamen und arbeitete lange Jahre als Bergarbeiter. Wir wollten Mal zurückerinnert werden, wie die Arbeitsmigration der türkischstämmigen Menschen von statten ging und sich entwickelte. Warum waren sie nach Deutschland ausgewandert und wie kamen diese Menschen nach Deutschland?
Şevket Çevik hat uns seine Lebensgeschichte, die auch ein Teil von unserer Geschichte ist, erzählt. Sie sagten, sie würden Arbeiter nach Deutschland holen…
Ich bin im Jahre 1940 in dem Landkreis Sarilar der Provinz Nevşehir in der Türkei geboren. Ich bin im Jahre 1962 nach Deutschland gekommen. Wir waren vier Brüder. Wir waren arm und lebten in Armut. Ich habe hier und da gearbeitet, nahm jeden Job an, der sich anbot. Im Dorf habe ich auf dem Acker/Land gearbeitet…Plötzlich sprach man von Deutschland und ich hörte mit, was besprochen wurde. Sie hatten gesagt, sie würden Arbeiter nach Deutschland holen. Diese würden in Deutschland arbeiten usw.. Ich habe das meinem älteren Bruder erzählt. Ich habe ihm gesagt, dass ich nach Deutschland gehen werde, um hier zu arbeiten. Sie fragten mich damals, ob ich verrückt geworden sei? Wie käme ich dazu nach Deutschland reisen zu wollen? Sie kannten damals nicht einmal die Provinz. Sie waren über die Grenzen der Kreisstadt niemals hinausgegangen und ich würde jetzt ins Ausland, nach Deutschland gehen wollen! Ich hatte mir das aber fest in den Kopf gesetzt, nach Deutschland zu kommen. Ich stellte den Antrag offiziell bei den Ämtern in der Türkei für meine Einreise in Deutschland Anfang/ Mitte März 1962. Es waren Männer aus den Provinzen Aksaray, Kirşehir und Nevşehir gekommen, um auch einen Antrag für die Reise nach Deutschland zu stellen. Aus meinem Dorf Sarilar waren 40 Männer gekommen. Wir machten uns auf den Weg und konnten uns gar nicht vorstellen, wo wir hingingen.
Damals hat man auf Herbergen übernachtet. Wir kannten noch kein Hotel. Wir hatten als Proviant Brot mitgenommen. Es war Winter und es lag ein Meter hoher Schnee auf den Straßen.
Unter diesen Bedingungen sind wir nach Kayseri gegangen und haben unsere Herberge erreicht. Wir haben dem Gastwirt 50 Kurus (Cent) gegeben und buchten die Herberge für 3 Übernachtungen.
Wir gingen danach zum Arbeitsamt und meldeten uns an. Die Beamten dort sagten uns, dass wir unsere Ausweisdokumente beantragen müssen und wir auch ein polizeiliches Führungszeugnis abgeben müssten. Wenn wir unsere fehlenden Papiere innerhalb zwei Tagen einreichen würden, könnten sie uns dann in zwei Tagen offiziell anmelden.
Ich bin verheiratet gewesen und hatte drei Kinder. Wir hatten eine Imam-Ehe (eine Eheschließung nach dem islamischen Brauch). So war das in unserem Dorf halt. Keiner heiratete standesamtlich. Ich hatte also auch keine offizielle, standesamtliche Ehe. Wir gingen zum Dorfvorsteher. Da gab es einen Büroangestellten. Dann haben sie irgendein Geburtsdatum für meine drei Kinder eingetragen. Dann sind ich und meine Frau nach Avanos gereist und heirateten hier offiziell. Danach sind wir wieder nach Kayseri gefahren und meldeten uns offiziell an.
GEHT NICHT, DIE ZIEHEN EUCH IN DEN KRIEG EIN!
Nachdem die Antragsprozedur beendet war, gaben sie uns an, in zwei Tagen wiederzukommen.
Das Arbeitsamt hatte einen Bus angemietet. Sie würden uns in zwei Tagen mit dem Bus nach Istanbul schicken. Von Istanbul aus würden wir dann nach Deutschland fliegen.
Wir würden dort in der Zeche arbeiten. Um die Vorbereitungen zu treffen, kehrten wir in unser Dorf zurück. Wir hatten zwei Tage. Hier versuchten sie uns an der Abreise zu hindern und uns zu überreden nicht abzureisen. Sie meinten die Ausländer würden uns in den Krieg einziehen. Sie meinten, da soll es einen Krieg gegeben haben. Alle Männer wären dabei umgekommen. Sie würden unsere Ehe in der Türkei annullieren und uns hier mit deutschen Frauen wiederverheiraten.
Nach zwei Tagen waren wir doch noch in Kayseri beim Arbeitsamt angekommen. Damals war ich 27 Jahre alt. Wir versammelten uns vor dem Arbeitsamt. Der Leiter des Arbeitsamtes kam aus dem Gebäude raus. Er trug eine Akte bei sich. Wir mussten uns nebeneinander aufstellen.
Es kamen 6 große Busse. „Die Männer, deren Namen ich laut vorlese, sollen in die Busse einsteigen“ sagte er. Er las die Namen vor aber es waren 15 Leute nicht anwesend. Dann fragte er, warum diese nicht gekommen wären. Dann wurde ihm erwidert, dass die Familien dieser Männer sie daran hinderten nach Deutschland auszuwandern. Sie hatten sie überzeugt, dass sie als Soldaten in den Krieg einziehen müssten oder eine Ausländerin heiraten müssten etc..
Der Leiter des Arbeitsamtes meinte daraufhin, dass wir solchem Unfug nicht glauben sollten. Er meinte, dass wir dort sehr viel Geld verdienen würden. Und zwar so dermaßen, dass diejenigen nach uns, die auch nach Deutschland kommen wollten, allein durch das Ausspielen der Beziehungen und durch Bestechungen nach Deutschland kämen. Er überzeugte uns mit dem, was er sagte. Wir stiegen in die Busse ein. Wir stiegen nachdenklich in die Busse ein, hatten Angst. Wir wussten nicht, was uns dort erwarten würde. Wir fuhren los. Nach 30-40 Kilometern kamen wir in Karabayir an. Da hatten sich sehr viele Menschen auf der Straße versammelt. Sie haben erfahren, dass unsere Busse diese Strecke nehmen würden. Unsere Mütter, Väter, Geschwister und Frauen. Sie alle kamen hierhin, um ihre Verwandten und Ehemänner doch noch daran zu hindern nach Deutschland auszuwandern. Sie würden ihre Männer wieder nach Hause mitnehmen. Die Busse mussten anhalten, weil sie die Straße verbarrikadiert hatten. Viele die ausstiegen, umarmen ihre Liebenden. Viele weinten und schrien… So haben sie doch noch 10-12 Männer überredet nicht weiterzufahren. Danach haben sie gesagt, je länger wir hier bleiben, werden desto mehr Leute ihre Meinung ändern und doch noch hier bleiben. Dann fuhren die Busse schnell weiter. Es war so, als entführten sie uns. Nach 30 Kilometern mussten wir wieder anhalten, da die Menschen aus diesem Landkreis sich auf der Straße versammelt hatten. Die Busfahrer fuhren ohne anzuhalten weiter. Viele sind hinter den Bussen her gerannt, viele schmissen sie mit Steinen…
SIE LIESSEN DIE BERGARBEITER MIT FLUGZEUGEN ANFLIEGEN
Dann sind wir in Ankara angekommen. Dort sind wir zum Arbeitsamt gefahren. Ärzte der deutschen Firmen waren hierhin gekommen. Sie untersuchten uns von Kopf bis Fuß. Wir würden ja als Bergarbeiter eingestellt. Sie wollten gucken, ob wir gesundheitlich in einem guten Zustand und damit zusammenhängend auch für die Arbeit brauchbar waren. Sie meinten, wir würden drei Tage hier bleiben. Wenn die Testergebnisse positiv ausfallen würden, würden wir dann nach Deutschland geschickt. Dem haben wir lautstark widersprochen. Was sollten wir hier denn auch essen und trinken. Wir hatten alle gar kein Geld. Sie erklärten, dass die deutschen Firmen uns jeweils 300 Mark pro Person Taschengeld geben würden und gaben uns danach dieses Geld. Das war gutes Geld. Einige haben das Geld genommen und flohen damit wieder in die Heimat!
Wir sind aber geblieben. Nach drei Tagen brachten sie uns dann mit Bussen nach Istanbul. Andere fuhren mit Zügen und Bussen nach Deutschland. Wir Bergarbeiter wurden aber mit Flugzeugen nach Deutschland transportiert. Der Bus war am Flughafen angelangt. Sie ließen uns aber nicht aussteigen.
Wir durften nicht einmal zu Toilette. Im Nachhinein haben wir erfahren, dass sie unsere Flucht befürchteten und deswegen nach derartigen Maßnahmen ergriffen haben sollen!
Es war ein deutsches Flugzeug. Wir würden zweimal umsteigen. Wir würden in Paris und Wien landen bevor wir nach Deutschland kämen. Unser Flugzeug landete in Paris. Wir stiegen aus dem Flugzeug aus. Eine Gruppe Polizisten haben uns empfangen. Wir sollten uns wie Soldaten hintereinander aufstellen und wurden im Flughafengebäude zum 5. Stock gebracht. Unsere Klamotten waren sehr alt und zerfallen, wir trugen alle geflickte Hosen und Jacken. In unseren Händen hielten wir unsere großen Brotbündel…
WIR SAHEN ZUM ERSTEN MAL IN UNSEREM LEBEN EINE ROLLTREPPE UND HATTEN SCHRECKLICHE ANGST VOR IHR!
Die Polizisten haben uns bis vor die Rolltreppe gebracht. Wir sollten nach oben fahren. Wir ähnelten einer Schafsherde. Nach einer Weile nahmen die Polizisten unsere Hände und zogen und schubsten uns auf die Rolltreppe. Diejenigen, die nach oben fuhren, fielen oben auf die Schnauze. Hier hielten wir uns ungefähr eine Stunde auf. Alle Menschen, die an uns vorbeiliefen, guckten uns neugierig an. Wir sahen wie Bergleute aus. Dann kam unser Flugzeug. Wir landeten in Düsseldorf. Hier wurden wir in eine Herberge gebracht. Unser Essen und unsere Betten waren bereitgestellt. Hier sollten wir uns nochmals einer ärztlichen Untersuchung unterziehen lassen. Wir blieben auch hier zwei Tage. Da gab es einen Dolmetscher. Der konnte Türkisch sprechen. Er hat uns alle auf dem Hof versammelt. Er meinte zu uns. „Ihr seid alle Türken. Ich bin auch Türke. Aber die Leute sind sehr neugierig auf die Türken, die zu ihnen kommen. Aber ihr seht alle sehr erbärmlich aus, was uns sehr erniedrigt hat. Wir werden dieses Problem weiterleiten. Sie sollen ab jetzt nicht mehr Arbeiter, die wie Bergleute aussehen und nicht besser gekleidet sind, nach Deutschland schicken. Wir haben daraufhin von unserer Reise erzählt. Er meinte zu uns darauf:“ Ihr trägt überhaupt keine Schuld. Aber ab jetzt werden wir alle, die nicht einen Regenschirm in der Hand halten und keine Krawatte tragen, hier aufnehmen und diese sofort zurückschicken.“ Er hat uns noch gesagt, dass uns jetzt unsere Busse abholen und zu unserer Arbeitsstätte fahren würden. Wir sollten gleich diesen Leuten ganz höflich die Hand geben und sie dabei anlächeln und uns höflich präsentieren.
Dann sind wir endlich am Ende unserer Reise angelangt. Hier konnten ca. 150 Männer schlafen. Da gab es auch einen Dolmetscher. In dieser erbärmlichen Situation hat der Chef des Wohnheims uns mit dem Dolmetscher zusammen zum Einkaufen in ein Warenhaus gebracht. Alle die uns ansahen, lachten. Sie starrten uns neugierig an. Uns stekkten sie in die Umkleidekabinen und kauften allen passende Kleidung. Wir haben auch Rasierzeug etc. gekauft. Das Alte und Veraltete blieb hier. Ab da lernten wir dann alles wieder neu.Wir hatten immer vor, das Beste zu erreichen, haben aber unseren Verstand nicht hinreichend genutzt.
Dann fingen wir an zu arbeiten. Wir leisteten Schichtarbeit. So habe ich fünf Jahre lang bei dieser Firma gearbeitet. Allah ist unser Zeuge. Wir haben immer wieder versucht das Beste rauszuschlagen. Aber konnten unseren Verstand nicht richtig gebrauchen. Wir konnten unser Geld nicht richtig anlegen. Konnten mit dem Geld nicht richtig umgehen. So vergingen die Jahre.
Im Jahre 1962 kam ich als Einzelner nach Deutschland. Mittlerweile bin ich Rentner und kann immer noch nicht zurückkehren. Meine gesamte Familie lebt jetzt hier. Ich habe 40 Enkelkinder. Ich habe 5 Töchter und zwei Söhne. Meine fünf Töchter verheiratete ich mit Armen. Sie waren alle Weisenkinder oder haben in Armut gelebt. Sie habe ich auch nach Deutschland geholt. Wir wollten immer Gutes tun. Allah soll vergeben. Aber ich mag die Politik gar nicht. Ich habe niemanden bis heute in den Schmutz gezogen. Es gab auch in der Zeit niemanden, der sich so richtig um uns gekümmert hat. Sie haben immer wieder alles durcheinandergewirbelt. Das machen sie heute immer noch. Ich möchte alle unsere Politiker ansprechen. Wir sind türkischstämmig.
Wir sind Türken, sind, Allah möge uns verzeihen, Muslime, wir sind alles… Aber das was sie gerade machen, dass steht ihnen nicht so recht. Es gab vorher nicht Türken, Kurden, Lazen etc. Das alles haben sie wegen der Wählerstimmen erfunden. Sie sollen das Land nicht ins Verderben stürzen, weil sie nur vorhaben, einen Sitz im Parlament zu ergattern!
(Übersetzt von Özgür Metin Demirel)
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