ERDAL DENİZ
Der 87 jährigen Frau Rosa gehörte das Gebäude, in dem sich unsere Malereiwerkstatt befand. Sie lebte in dem 160 Qudratmeter Haus mit ihren beiden Katzen zusammen. Ihre Katzen waren auch so alt wie sie selbst. Die eine hieß Männlein (16 Jahre) und der andere Eddi (14 Jahre). Frau Rosa war eine bescheidene und wohlhabende Dame. Sie wohnte im vierten Stock des Gebäudes, in welchem sich auch unsere Werkstatt befand. Ihre Söhne riefen uns oft an, um sich nach ihrem Wohlbefinden zu informieren. Sie erledigte ihre Einkäufe allein und kochte selbst. Für die Hausarbeit und Reinigung hatte sie eine Reinigungskraft eingestellt, die einmal wöchentlich zu ihr kam und ihre Wohnung putzte. Und obwohl das nicht in meiner Verantwortung stand, nahm ich jeden Morgen ihre Tageszeitung aus dem Briefkasten raus und legte sie vor ihre Haustür. Immer wenn ich ihre Tageszeitung vor ihre Haustür legte und feststellte, dass die vom Vortag nicht mehr vor der Tür lag, freute ich mich darüber, dass sie noch am Leben war. Ich war immer aufgeregt und schritt die Treppe immer in der Hoffnung hoch, nicht die Zeitung vom Vortag vor ihrer Haustür finden zu müssen.
Frau Rosa liebte ihre Katzen sehr. Sie sprach zu ihnen und schimpfte mit ihnen ab und zu. Egal wie wütend sie auch auf ihre Katzen gewesen war, gab sie dann von sich: “Sie brauchen mich ja. Ich kann sie nicht ohne Mutter zurücklassen. “. Ich war überzeugt davon, dass diese Einstellung ihr neue Lebensenergie bescherrte.
Eines Tages lud sie mich und meinen Malerfreund Deniz in ihre Wohnung ein. Sie hat uns Kaffee und Kuchen serviert. Während des Gespräches sagte sie uns beiden, dass ihre Reinigungskraft seit zwei Monaten nicht mehr kommen würde und sie Probleme hätte, allein die Wohnung sauber zu halten und die schwere Hausarbeit zu erledigen. Dann sprach sie zu uns mit ruhiger Stimme und fragte: “Ich möchte euch um etwas Wichtiges bitten. Würdet ihr bitte euch um meine Katzen kümmern, wenn ich sterbe?” . Wir waren beide schockiert und überaus besorgt. Wir versuchten sie von ihrem wirren, dunklen Gedanken loszureißen und sprachen ihr ein, dass sie doch an so etwas Schlimmes nicht denken sollte. “Wir unterhalten uns jetzt über eine sehr ernste Angelegenheit.”, sagte sie ganz streng zu uns und fragte noch einmal bestimmt: “Ich möchte, dass ihr beide mir verspricht, euch um meine beiden Katzen zu kümmern, wenn ich sterben sollte. Würdet ihr euch um sie kümmern, wenn ich nicht mehr lebe? Außer euch beiden habe ich niemanden, denen ich sie anverstrauen kann!”. Eigentlich hatte sie aber zwei Söhne. So wie wir das verstanden hatten, wollten die Söhne die Katzen nicht haben. Wir beide waren zutiefst erschüttert und betrübt über ihre Entschlossenheit. Um sie zu trösten, versprachen wir ihr: “Natürlich werden wir uns um sie kümmer.” Nach diesem Gespräch waren zwei Wochen vergangen. An dem Tag fand der Kurs “Kunst für Kinder” in Dortmund statt. Da wir diesen Kurs leiteten, gingen wir an dem Tag nicht in die Werkstatt. Am nächsten Tag fühlte ich mich um die Mittagszeit unwohl. Ich wollte in die Malereiwerkstatt gehen, obwohl wir Sonntag hatten. Mit meinen Malerfreund Deniz gingen wir dann gemeinsam in die Malereiwerkstatt. Wir öffneten die Haustür und sahen, dass Frau Rosa`s Handtasche auf der Treppe lag und der Inhalt auf der Treppe zerstreut rumlag. Als ich verstehen wollte, was überhaupt geschehen war, sagte Deniz, dass da ein großer schwarzer Fleck vor der Kellertreppe wahrgenommen hätte. Ich lief die Treppe runter. Wir sahen, dass Frau Rosa auf dem Boden lag. Frau Rosa erlag den Nierenschäden und Herzproblemen, die dadurch verursacht wurden, dass sie an einem Wintertag so lange auf der Treppe liegengeblieben war. Wir werden immer wieder Zeuge derartiger Ereignisse, die Rosa auch wiederlaufen ist, so dass wir hier nicht alles aufgreifen können; Wenn wir auch viele Seiten darüber schrieben, würden wir trotzdem nicht alles vollständig aufarbeiten und darstellen können.
Wir leben in riesigen Gebäudekomplexen. An den Ein- und Ausgängen werden die Nachbarn zwar höflich gegrüßt, aber dennoch halten sich alle Nachbarn davor zurück, sich gegenseitig auf ein Kaffe und Kuchen einzuladen. Es ist so, als ob sie sich voreinander fürchten würden. Es ist so, als ob wir in ein Hotel reinlaufen oder aus einem Hotel rausspazieren würden. Niemand gibt sich Mühe, seine Nachbarn zu treffen, einen guten Kontakt zueinander zu pflegen und einen solidarischen Umgang miteinander aufzubauen.
Niemand darf der Einsamkeit überlassen werden. Das darf nicht das Schicksal aller werden. Wie ich bereits in meinen vorherigen Artikeln geschrieben habe, sind Küntler*innen Zeugen der Gesellschaft, in welcher sie leben und sie sich gerade aufhalten. Sie lassen das Erlebte und ihre Gedanken, in ihre Werke und Arbeiten frei einfließen. Ich bitte drum, das nicht mißzuverstehen. Ich werde hier niemandem vorschreiben, wie sie zu Leben und sich zu Verhalten haben. Ich habe vor Jahren meine Arbeiten von melancholischen Portraits unter dem Namen von “Entfremdung” ausgestellt. Da ich mich aber schon zu lange mit diesem Thema beschäftigte und dises Thema mich gewissermaßen langweilte, wechselte ich mein persönliches Aufgabenfeld und wandte mich neuen, anderen künstlerischen Tätigkeitsbereichen zu. Nach dem Tod von Frau Rosa verstehe ich heute viel besser, wie wichtig diese Angelegenheit war und heute noch ist.
Ich bin überzeugt davon, dass die größte Gefahr unserer Zeit darin besteht, dass der Mensch sich selbst und seiner Umwelt entfremdet. Marx aus Trier schrieb einst:” Diese Entfremdung des Menschen vor sich selbt und der Natur tritt in der Beziehung des Menschen mit sich selbst und den anderen Menschen in der Gesellschaft deutlich hervor.”In seinen Werken hat er die Begriffe Entfremdung und Entäußerung wechselseitig gebraucht. So wie Marx auch zutreffend formulierte, während wir uns aneinander entfremden, grenzen wir auch gleichzeitig die anderen aus und verändern dabei auch uns selbst. Während wir also ausgrenzen und uns verändern, entfremden wir uns.
Sowohl die Kunst, als auch der Mensch sind Teil dieser Entfremdung. Während wir unsere Menschheitsgeschichte zu erklären versuchen, kommen wir zu dem Entschluss und der Realität, dass unsere Beziehungen zu der Kunst und die vorherrschenden Beziehungen (Verhältnisse) mit den anderen Menschen, unseren Nachbarn, mit unserer Umwelt uns deutlcih zeigen, wo wir gerade stehen und wo das Leben uns hinführt. Derjenige, der sich von Kunst und dem Künstler entfernt, der wird sicherlich auch sich von dem Menschen und den Werten, die ihn zum Menschen machen entfernen. Kunst kann man nicht nur mit den Resultaten und Kunstwerken erklären. Sie ist gleichzeitig auch ein revolutionäres Mittel/Instrument, um uns selbst und unsere Umgebung zu verändern.
Kunst kann mit individueller Anstrengung produziert werden und einen gewissen, wichtigen Wert darstellen. Dennoch schöpft sie ihre wesentliche Energie aus dem kollektiven Besitz. Ein Mensch, der mit dem Licht der Kunst erhellt wurde, ist nicht mehr derjeniege, der es gestern gewesen ist. Das Sediment und der Russ, die ihm anhafteten, werden durch die Kunst entfernt. Er ist jetzt ein neuer Mensch. In der Erwartung, dass Ihr Lebensweg immer erhellt würde. Bleiben Sie gesund. Bleiben Sie solidarisch.
(Übersetzung: Özgür Metin Demirel )
(Foto: Deniz Yıldız)
Antworten